Ein Netflix für Medien — „young+restless“ Debatte eröffnet Perspektive auf die Zukunft des Journalismus

Dennis Beismann
blueReport Monitoring
5 min readJun 11, 2021

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Coronakonform und souverän in der Umsetzung fand gestern „young+restless“ statt — ein Netzwerktreffen des Blogs BASECAMP, des Berliner Mediensalons und der Berliner Wirtschaftsgespräche. Das Leitthema des Abends war die fortschreitende Digitalisierung sowie die Frage nach den Stolpersteinen, die dieser Weg unweigerlich birgt und die vor allem hierzulande nicht oft genug gestellt werden kann. Auf dem Panel saßen illustre Gäste und bekannte Köpfe des deutschen Mediengeschehens, die im YouTube-Stream ihre Perspektive auf die Zukunft des Journalismus eröffneten. Die kompetente und versierte Moderation der Debatte übernahm Diana Scholl, Leiterin Politische Netzwerke vom Bundesverband mittelständischer Unternehmen. Hier gehts zum Stream.

Den thematischen Aufschlag bildeten zwei Impulsreferate, in denen gleichermaßen das Potential sowie der Aufholbedarf im Digitalisierungsprozess deutscher Medienhäuser skizziert wurde. Dr. Jan-Georg Plavec von der Stuttgarter Zeitung führte in das Thema Datenjournalismus ein und illustrierte anhand einiger Leuchtturmprojekte, wie Journalismus 2021 aussehen kann (so z.B. das WDR-Projekt Superkühe). Michael Kreil vom Bayrischen Rundfunk lieferte eine kritische Bestandsaufnahme zum Stand der Digitalisierung in deutschen Redaktionen und Verlagen. Seine Mängelliste (fehlende Laptos, überforderte IT-Abteilungen, desaströse Sicherheitsarchitektur etc.) beleuchtete viele Realitäten mit dem Brennglas. Es überraschte daher kaum, dass sein pointierter Vortrag zu Kritik in der Kommentar-Spalte des Streams führte.

Jeannine Koch eröffnete dann mit ihrem ersten Wortbeitrag das eigentliche Panel. Die Vorsitzende von media:net brandenburg stimmte zu, dass viele Akteure im Mediengeschehen derzeit noch Aufholbedarf hätten, um für die anstehenden Herausforderungen gewappnet zu sein. Insgesamt sei die Frage zu stellen, wie sich digitaler Journalismus zielorientiert vermarkten ließe und welche Möglichkeiten es gebe, um Medienvielfalt zu erhalten.

Saim Rolf Alkan, CEO von AX Semantics, einer Software zur automatisierten Texterstellung, äußerte sich zur Frage, wer bei der Verwendung der Produkte seines Hauses journalistische Verantwortung übernehme. Dabei machte er deutlich, dass immer der Mensch, der ein Tool bediene, auch für dessen Ergebnisse einstehen müsse.

Margit Stumpp betrachtete das Themenfeld aus politischer Perspektive und sprach sich für mehr Nachdruck in der Digitalisierung aus. Die medienpolitische Sprecherin der Grünen plädierte dafür, dass auch die Rezipienten zeitgemäßen Journalismus‘ befähigt werden müssten, moderne Medienformate zu erfassen und zu deuten.

Eva Werner, Leiterin der Kommunikation im ARD-Hauptstadtstudio, unterstrich den erheblichen Mehrwert von fundiertem Datenjournalismus. Sie verknüpfte damit ihre These, dass viele Menschen in einer „Filterblase“ lebten, die für klassisch textbasierten Journalismus kaum erreichbar seien. Da Datenjournalismus als besonders evidenzbasiert gelte, ließen sich mit ihm auch Rezipienten erreichen, die das klassische Mediengeschehen oftmals verloren habe.

Nico Lumma von Next Media Accelerator, ein Unternehmen das innovative Startups im Medienbereich fördert, verbreite positive Vibes und konstatiere, dass wir trotz aller Herausforderungen in einer „coolen Zeit“ lebten, in der vieles möglich sei. Die Pandemie habe deutlich gemacht, dass Menschen auf der ganzen Welt gemeinsam eine Zeitung erstellen können, ohne dabei im gleichen Raum zu sitzen. Für diese Arbeitsformen böten StartUps eine Menge Tools, die effektives Arbeiten erleichtern und die man nutzen sollte. Die Wandlungsprozesse im Medienmarkt seien vielfältig, böten ein enormes Potential und auch die etablierten Medienhäuser täten gut daran, wenn sie aus ihrer “Schmollecke” herauskämen, weil der Medienmarkt sich verändert habe.

Sebastian Turner problematisierte im Panel die weggebrochenen Einnahmequellen des klassischen Journalismus‘ und stellte Überlegungen an, wie sich regionale Berichterstattung künftig finanzieren lasse. Aus der Sicht des Medienunternehmers und Publizisten sollten Verlagshäuser in Metropolen nicht das städtische Gesamtgebiet in den Blick nehmen, sondern stärker auf den Anzeigenmarkt in einzelnen Bezirken setzen. Der Tagesspiegel mache bereits vor, wie es geht, und biete wöchentlich für alle Berliner Bezirke individualisierte Unterausgaben an.

Stefan Niggemeier, Medienjournalist und Gründer von Übermedien, reagierte auf die Frage, warum es noch kein Netflix für Medien gäbe, also ein Portal, das sämtliche Medienerzeugnisse anbiete. Niggemeier sagt diesem Ansatz keine große Zukunft voraus, zumal der Vergleich hinke, weil ein Zeitungsartikel im Gegensatz zu einem Spielfilm nur einmal gelesen werde. Aus seiner Sicht müssen Medienmacher stärker darauf fokussieren, eine emotionale Bindung zu ihrem Publikum aufzubauen. Dieser Punkt sei für sein Unternehmen zentral und werde von Tag zu Tag wichtiger. Nico Lumma schloss sich an. Ein Netflix für Medien sehe er schon deshalb nicht kommen, weil die Medienhäuser oftmals viel zu unterschiedlich seien und ganz andere Ziele verfolgten.

Margit Stumpp betonte, dass es bereits Überlegungen zu einem großen Portal gegeben habe, das aber an den Vorstellungen der großen Verlagshäuser gescheitert sei. Im Zentrum stehe für sie die Frage, wie künftig die journalistische Vielfalt bewahrt werden könne. Eva Werner wollte sich nicht dazu äußern, ob die ARD ein gemeinsames Medienportal grundsätzlich ablehne, räumte jedoch ein, dass es auch beim ÖRR Überlegungen gegeben habe, die Mediatheken von ARD und ZDF zusammenzulegen.

In Hinblick auf die Frage, warum die Verlage sich gegen ein Netflix-Modell sperrten, dann aber mit google und Facebook zusammengingen, argumentierte Sebastian Turner, dass diese Unternehmen „Besitzer von Öffentlichkeit“ seien und kein Weg um eine Zusammenarbeit vorbeiführe. Dieser Punkt fand die Zustimmung des Panels, in dessen Schlussplädoyer wiederholt die Forderung aufkam, dass Plattformen wie Facebook künftig stärker reguliert werden müssten.

Das Programm rundeten drei Kurzpräsentationen ab, in denen gezeigt wurde, wie innovative Medienformate in der Praxis unterstützt werden können. Volker Bach, Geschäftsführer des MIZ Babelsberg, erklärte, wie seine Einrichtung innovative Journalismusformate fördert. Innovation sterbe in der Krise als erstes und es bedürfe Geld, Zeit, Raum, Glück und einiges mehr, um sie am Leben zu erhalten. Auch das Media Lab des Mediennetzwerks Bayern fördert Medienprojekte, insbesondere StartUps. Die Leiterin der Einrichtung, Lina Timm, stellte drei geförderte StartUps vor, die sich mittlerweile erfolgreich am Markt etabliert haben (RosaMag, Fusionbase und SWEN). CEO von tactile.news, Astrid Csuraji, beschrieb ihr Unternehmen als Innovationslabor, das zunkunftsweisende Produkte testet. So präsentierte sie einen Pansensensor, der im Rahmen eines WDR-Projekts die Daten von Kühen in verschiedenen Haltungsformen gemonitort hat (s.o.), um völlig neue Einblicke in die Milchproduktion zu ermöglichen. Ihr Credo ist, dass Unternehmen heute mehr StartUp-Mentalität benötigen, um schneller an die Menschen heranzukommen.

Der offizielle Teil der Debatte, welche auf wonder.me fortgesetzt werden konnte, fand an dieser Stelle ein Ende. Konsens unter allen Teilnehmenden war, dass die Zukunft des Journalismus online stattfindet und sich hier abzeichnet, welche Themen morgen entscheidend sind. Vom Panel selbst blieb der Eindruck einer gut besetzten Runde aus Medienmenschen, die sich kenntnisreich äußerten und interessante Perspektiven eröffneten. Dass das Format thematisch etwas fragmentiert wirkte und sich keine angeregte Debatte oder gar ein produktives Streitgespräch entzündete, ist vermutlich dem Online-Format selbst geschuldet. Es bleibt daher zu hoffen, dass das Pandemiegeschehen bald wieder einen verbalen vis-à-vis-Schlagabtausch zulässt, wenn „young+restless“ in die nächste Runde geht.

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